In diesem Kapitel erzähle ich meine persönliche Geschichte im Spannungsfeld zwischen Kirche und Kommunikation. Dabei werden einige der Probleme erkennbar, die sich ergeben, wenn jemand die von der Kirche vorgegebenen Wege der Informationsgewinnung verlässt und anfängt, die Grundlagen des Glaubens zu hinterfragen.
Die Erfindung des World Wide Web (WWW) und der darauf folgende Internetboom haben zu einer Entwicklung geführt, die weite Bereiche unseres Lebens verändert haben: Viele Menschen können sich ein Leben ohne Internetmärkte, Musiktauschbörsen, Online-Chats, E-Mail, Internet-Diskussionsforen, Online-Banking usw. kaum noch vorstellen. Kommunikation ist nahezu grenzenlos möglich und weitgehend unabhängig davon, in welchem Land oder auf welchem Erdteil sich die Kommunikationspartner aufhalten.
Diese Entwicklung ging auch an der Neuapostolischen Kirche nicht vorüber. Bis Mitte der neunziger Jahre verfügte die Kirchenleitung sozusagen über ein Informationsmonopol: Die Gemeindemitglieder erfuhren ausschließlich über die kirchlichen Informationskanäle (vor allem die kircheneigene Zeitschrift Unsere Familie und besondere Gottesdienste), was sie aus Sicht der Kirchenleitung erfahren sollten. In den öffentlichen Medien war das Interesse an der NAK gering.
Durch die Verbreitung des Internets entstanden jedoch Foren, die nicht mehr der Kontrolle der Kirchenleitung unterstanden. Im deutschsprachigen Raum gab es einen lebhaften Austausch zunächst in geschlossenen privaten Mailinglisten1) wie der Folks-Mailingliste, die bereits Anfang 1996 etwa auf hundert Mitglieder kam und ein recht hohes Mailaufkommen hatte (es gab Tage mit 50 Mails).
Im Januar 1996 erstellte ich einige Webseiten2) mit Informationen über die Neuapostolische Kirche und machte sie in Newsgroups und Webkatalogen (etwa Religio) bekannt. Ich hatte dabei nichts anderes im Sinn als eine Art von Aufklärungsarbeit (oder Weinbergsarbeit) und war voller Zuversicht, die Wahrheit (über die Neuapostolische Kirche) spräche für sich selbst.
Inhalte dieser Webseiten waren zunächst unter anderem Texte vom Verlag Friedrich Bischoff:
Weiteres Informationsmaterial:
Ich war überrascht über die Reaktionen. Über E-Mail bekam ich Zuspruch von etlichen Glaubensgeschwistern. Dadurch erfuhr ich erst von der Folks-Mailingliste, der ich bald darauf beitrat. Und ich lernte Kritiker kennen, mit denen ich lebhafte Diskussionen führte7). Damals konnte ich nicht verstehen, dass es andere Gründe geben könnte, sich von der Kirche zu distanzieren als folgende:
Ich wollte wissen, was in diesen Kritikern vorging und wie es zu einer wie ich dachte verhängnisvollen Entwicklung kommen konnte, die dazu führte, sich von der Kirche zu trennen. So war es eine nicht geringe Überraschung für mich, zu erfahren, dass es Leute gibt, die aus der NAK austreten und sich in einer anderen Kirche engagieren - aus theologischen Gründen!
Meine Privatinitiative zur Darstellung der Neuapostolischen Kirche im WWW wurde offenbar von der Kirchenführung nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Ein Folks-Mitglied schrieb mir im März 1996: „Mich hat beim Lesen der Seiten die Frage beschäftigt, ob du eigentlich mit deinen Segensträgern schon mal über deine Internetaktivitäten gesprochen hast." Ich hatte noch nicht darüber gesprochen und holte das bei nächster Gelegenheit nach: Mein Bezirksältester erhielt einen Ausdruck meiner Internetseiten. Ende des Monats bekam ich (nach einem vorangegangenen kurzen Gespräch mit Bezirksapostel Wend) einen Brief vom Verlag: „Da die Kirche von sich eine offizielle Einspeicherung vorbereitet und zum anderen Nutzungsrechte beim Verlag liegen, bitten wir Sie, bis auf die Texte aus dem Faltblatt und der Werbebroschüre ‚Die Neuapostolische Kirche' alle Beiträge aus dem Internet herauszunehmen."
Ich war daraufhin der Auffassung, es würde genügen, die aus Verlagsmaterial kopierten Seiten zu löschen und ließ eigene Ausführungen (u. a. zum Sektenbegriff, zum Zehnten, zur Besoldung der Amtsträger, zum Stellenwert der Bibel und zum Entschlafenenwesen) stehen.
Einen Monat später erhielt ich einen weiteren Brief vom Verlag: „Uns liegt ein Ausdruck vom 23. April 1996 des Materials vor, das Sie über die NAK im Internet verbreiten. … Wir raten Ihnen noch einmal dringend, alle Texte bis auf das Faltblatt und das Glaubensbekenntnis aus dem Internet herauszunehmen und abzuwarten, bis offizielle Texte vorliegen."
Daran hielt ich mich, doch ich fand die Reaktion der Kirchenleitung8) auf meine Initiative sonderbar. Der offizielle Internetauftritt der Kirche (http://www.nak.org) kam erst etwa ein Jahr später, am 15. April 1997.
Allmählich entstanden weitere Websites und Diskussionsforen, in denen die Kirche zunehmend kritisch betrachtet wurde. Man erfuhr von sogenannten Aussteigern und von Abspaltungen, man konnte leicht Informationen über andere Kirchen erhalten, die sich wie die NAK direkt oder indirekt aus der Katholisch-Apostolischen Kirche entwickelt hatten.
Höhepunkte der kritischen Auseinandersetzung mit der NAK im Internet waren (oder sind) aus meiner Sicht:
Bei meiner Beschäftigung mit den neuen verfügbaren Informationen über die NAK (und das Christentum allgemein) geriet ich in einen Prozess, dem ich nicht widerstehen konnte und dem ich nicht widerstehen wollte. Ich fühlte mich der Wahrheit verpflichtet und konnte nicht mehr hinter gewonnene Erkenntnisse (mehr dazu im Hauptteil) zurück. Mit dem kindlichen Glauben, der kritiklos annimmt, was von den Vorangängern gesagt wird, war es schließlich vorbei.
Begonnen hatte ich 1996 damit, mich um Verständnis für die Formellen, Aussteiger und Kritiker zu bemühen. Nun wollte ich herausfinden, was kritisch eingestellte Glaubensgeschwister trotz aller Kritik in dieser Kirche hält, denn ich fühlte mich der NAK immer noch verbunden und wollte doch gern wieder „richtig" glauben können. Mit diesem Vorsatz habe ich mich im Februar 2002 bei der GK-Mailingliste und kurz darauf beim neuen GK-Webforum angemeldet.
Am 10. November 2002 war ein örtlicher Ämtergottesdienst, der zu einem Wendepunkt für mich wurde. In diesem Gottesdienst wurde zum einen empfohlen, man solle bei Problemen keine heile Welt vorspielen und, auch was den Glauben angeht, zu seinen Schwächen stehen. Andererseits wurde erneut ein neuapostolischer Exklusivismus gepredigt: das Apostelamt sei nicht etwa nur heilsförderlich, sondern heilsnotwendig. Zudem wurde die Esoterik pauschal verurteilt und davon abgeraten, sich seinen Glauben zusammenzubasteln13). Nach diesem Gottesdienst bat ich den Bezirksältesten um ein Gespräch und stellte ihm meine Situation in einer E-Mail dar. Darin formulierte ich auf ca. sechs Druckseiten meine Kritik an der Kirche.
Ich schrieb, der Kirche mangle es an Wahrhaftigkeit, Offenheit und Kritikfähigkeit, ihr Weltbild sei flach und eindimensional, das kirchliche Frauenbild sei nicht mehr zeitgemäß14), und in der Kirche scheine es keine Klarheit darüber zu geben, was unter der Seele zu verstehen sei15).
Am 22. November 2002 hatte ich dann ein Gespräch mit dem Bezirksältesten und Apostel Opdenplatz. Das Gespräch war trotz der leider ungeheizten Kirche (aus meiner Sicht) warm und freundlich, doch nach drei Stunden war klar, dass ich mit meiner Einstellung mein Amt als Diakon nicht weiter ausüben konnte. Apostel Opdenplatz beurlaubte mich zunächst für ein halbes Jahr und bat mich, „die Zeit der Beurlaubung zu nutzen, um Klarheit zu gewinnen"16).
Statt mich mit „einseitigen Stellungnahmen gegen das Evangelium Christi und gegen das Werk Gottes"17) zu beschäftigen, las ich prochristliche Literatur: Klaus Berger (Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben?), Hans Kessler (Sucht den Lebenden nicht bei den Toten), Bernhard Lang (Heiliges Spiel) und Hubertus Halbfas (Die Bibel). Ich nahm sogar (allerdings in einer evangelischen Gemeinde) an einem „Grundkurs des Glaubens" teil.
Doch ich sah mich prinzipiell in meinen Zweifeln bestätigt, die vor allem kirchliche Dogmen (oder Eckwerte) wie Jungfrauengeburt, Trinitätslehre, das Verständnis der Kreuzigung Jesu als freiwilligem Opfertod usw. betrafen.
Mit dem Pfingstgottesdienst 2003 kam eine „erweiterte Lehrmeinung"18), die meine Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Kirche mehrten: Die erste Auferstehung sei ein Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum erstrecke; die in der Zeit der großen Trübsal getöteten Märtyrer sollten ebenfalls an der ersten Auferstehung beteiligt sein. Offenbar wurde damit stillschweigend die bisher gültige Lehre vom „Knäblein"19) (den vollendeten Brautseelen) und dem „Sonnenweib" (den Seelen, die zur Zeit der großen Trübsal an einen sicheren Ort in der Wüste entrückt werden sollten) aufgehoben. Lehrveränderungen finde ich nicht schlimm, sondern sogar notwendig; doch ich finde diese Art der Vermittlung neuer Lehraussagen20) unwahrhaftig.
Schließlich legte ich mein Amt am 24. Juni 2003 nieder und begründete diesen Schritt in meinem Schreiben an alle vorgesetzten Amtsträger vom Gemeindevorsteher bis zum Bezirksapostel. Dabei gab ich meiner Hoffnung Ausdruck, meine Amtsniederlegung könne der Kirche „einen kleinen Anstoß zu mehr Wahrhaftigkeit, Offenheit und Aufrichtigkeit" geben.
Die Theologie ist für mich sozusagen zu einem Steckenpferd geworden, weil es ein Thema ist, das mich zutiefst betrifft. Ich habe gelernt, meine Zweifel zu akzeptieren und sie, so paradox das auch klingen mag, als Hilfsmittel auf meinem Weg zu Gott zu begreifen.
Neben den allzu oft unbefriedigenden neuapostolischen Gottesdiensten besuche ich gelegentlich auch evangelische21) Gottesdienste, die mir eine willkommene Abwechslung und eine Bereicherung geworden sind. Ich nehme an einem ökumenischen Gesprächskreis teil und nutze verschiedene Möglichkeiten, die sich mir bieten, um mich mit Glaubensthemen auseinander zu setzen.
Zur Zeit fällt es mir schwer, mir vorzustellen, bis an mein Lebensende (aktives) Mitglied in der NAK zu bleiben. Die Frage scheint nicht so sehr zu sein, ob ich die Kirche verlassen werde, sondern wann. Die Kommunikation zwischen der Kirche und mir funktioniert nicht mehr - in beiden Richtungen.