4.4 Das Entschlafenenwesen

Die Lehre der NAK vom Entschlafenenwesen gehört zu den Lehren, die sie wohl am meisten von anderen christlichen Kirchen unterscheidet. Zunächst folgt nun ein Blick auf die neuapostolische Jenseitsvorstellung, gefolgt von einer Darstellung der Entwicklung des Entschlafenenwesens. Dann wird untersucht, wie diese Lehre vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund eingeordnet werden kann. Schließlich wird danach gefragt, ob das Entschlafenenwesen in sich stimmig ist. Dabei wird insbesondere die Art der Lehrvermittlung betrachtet. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Schlüsselgewalt des Stammapostels, die traditionell eng mit dem Entschlafenenwesen verknüpft ist.

Die dem Entschlafenenwesen zugrunde liegenden Annahmen bezüglich einer Weiterexistenz der Seele nach dem Tod in jenseitigen Bereichen sowie der Möglichkeit, nachträglich Erlösung zu bewirken, werden nicht weiter hinterfragt, da hier keine weltanschauliche Neutralität gewährleistet werden kann. Ein kleiner Blick über den neuapostolischen Tellerrand kann jedoch nicht schaden.

4.4.1 Das neuapostolische Jenseits

Aus neuapostolischer Sicht dient unser dieseitiges Leben hauptsächlich zur Vorbereitung auf das ewige Leben nach dem Tod bzw. nach der Wiederkunft Jesu (je nachdem, welches Ereignis zuerst eintritt).

Das ewige Leben beginnt sozusagen mit der Inkarnation (Verkörperung) der Seele bei der Zeugung, genauer: bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Nun hängt fast alles andere davon ab, ob man die frohe Botschaft vom wieder aufgerichteten Apostelamt hört und glaubt, die Sakramente empfängt und regelmäßig in die Gottesdienste und unter Wort und Gnade kommt.

Friedrich Linde schrieb in dem Büchlein Das Leben nach dem Tode1),

daß der bisherige Zustand des ganzen Seelenlebens auch nach dem Tode bleibt, daß also der Wille von den bisherigen Trieben, Begierden und Leidenschaften noch immer beherrscht bleibt, daß ferner die Gedanken durchaus dieselbe Richtung wie bisher behalten, vielleicht alles dies in noch verstärktem Maße …

Nach dem Tod bleibt also die Seele mit ihren Eigenschaften erhalten, die „mit einem ätherischen Leib, dem Seelenleib oder, wie man ihn auch nennen mag, dem Astralleib bekleidet ist, der gewöhnlich für das menschliche Auge unsichtbar bleibt."2) Seit einigen Jahren vermeidet man zwar unbiblische Begriffe wie Ätherleib oder Astralleib, aber grundsätzlich scheint man davon auszugehen, dass die Seele mit einer Art Leib ausgestattet ist, durch den sich ein Verstorbener den Lebenden zeigen kann: „Läßt Gott es zu, so wird der Seelenleib sichtbar, indem er sich verdichtet oder, wie man sich ausdrückt, materialisiert."3)

Hier zeigt sich bereits eine gewisse Nähe zum Spiritismus, dem von Friedrich Linde jedoch eine klare Absage erteilt wird. Der Spiritismus wird aber immerhin als „ein Beweis für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele"4) angesehen.

Linde weist zu Recht darauf hin, „daß die Bibel … nicht Aufschluß über das Leben nach dem Tode geben will"5). Die Bibel enthält nur einzelne und zum Teil widersprüchliche Hinweise darauf, was nach dem Tod erwartet werden kann. So erwähnt Linde „eine große Anzahl wohlbeglaubigter Berichte, die den Zustand der Unglückseligen im Totenreich aufgrund von Visionen oder Traumgesichten schildern"6).

Mit dem Tod ist die Entwicklung der Seele keinesfalls abgeschlossen, sondern geht kontinuierlich weiter: Wer als Kind gestorben ist, erfährt im Jenseits eine besondere Behandlung:

Wird er [Gott] nicht Fürsorge getroffen haben, daß sie im Jenseits einer Stätte zugeführt werden, wo sie durch dazu beauftragte Friedensboten eine viel bessere Erziehung und Belehrung finden, als sie ihnen je in der Welt geboten werden konnte? Vor den Versuchungen, Verführungen und Sünden der Welt bewahrt, wachsen sie dort heran … als menschliche Geister, die dort nicht nur der Belehrung, sondern vielleicht auch mancher Zuchtmittel bedürfen, damit sie von dem angebotenen Verderben gereinigt und der Gnadenstätte zugeführt werden können, wo ihnen dann die Erlösung vermittelt werden kann.7)

Im Prinzip ist das Dieseits somit nur noch aus einem Grund erforderlich:

Es muß aber immer festgehalten werden, daß die Begnadigung und Freimachung und jede Segnung, die zur Erlösung führt, nur auf Erden vollzogen werden kann, weil Jesus auf Erden sein Leben zu einer ewig gültigen und einzig vollgültigen Erlösung dargebracht und ferner hier … die Gnadenstätte in der Aufrichtung des Apostelamtes und der apostolischen Ordnung errichtet hat.8)

Davon abgesehen ist das Jenseits nichts anderes als die Fortsetzung des im Dieseits begonnenen Lebens.

Eine weitere Wendung ist die Auferstehung. Wie es scheint, erweitern sich dadurch hauptsächlich die Möglichkeiten (der Auferstandenen), Erlösungsarbeit zu verrichten. Da die Seelen ihr gewohntes Leben nach dem Tod mehr oder weniger weiterführen, liegt ansonsten kein erkennbarer Nutzen in einem neuen Leib.

An das „tausendjährige Friedensreich" schließt sich das Endgericht an, das ein Ende der Erlösungsarbeit bedeutet. Zuletzt folgt die ewige Herrlichkeit der Erlösten bei Gott sowie die ewige Verdammnis der Gottlosen in der Hölle.

Liegt das Glaubensziel anderer Christen auch darin, zu Gott in den Himmel zu kommen - „[u]nser Glaubensziel aber … liegt näher: Wir möchten bei der Wiederkunft Jesu in Gnaden angenommen werden."9) Das neuapostolische Glaubensziel besteht im Kommen Christi zur Heimholung der Braut. Zwischen heute und dem eigentlichen Himmel10) liegen mindestens tausend Jahre, daher gilt das Interesse vor allem der Hochzeit im Himmel und dem tausendjährigen Reich. Die meisten anderen Christen teilen diese Zukunftssicht nicht. Nach ihrer Auffassung liegt das neuapostolische Glaubensziel keineswegs näher, hoffen sie doch überwiegend darauf, nach dem Tod direkt und ohne tausendjährige Verzögerung in den Himmel zu kommen.

4.4.2 Entwicklung des Entschlafenenwesens

In den Katholisch-Apostolischen Gemeinden, aus denen die NAK hervorging, war es üblich, für Verstorbene zu beten. Dies wird auch in anderen christlichen Kirchen praktiziert.

Sakramente für Entschlafene

Der Beginn der Entwicklung unseres heutigen Entschlafenenwesens liegt im Jahr 187211):

Als im genannten Jahre [1872] ein totgeborenes Kind apostolischer Eltern in die Ewigkeit ging, war große Traurigkeit nicht nur im Herzen der Eltern, sondern in der ganzen Gemeinde darüber, daß man ein kleines Kind sozusagen als Heide in die Ewigkeit gehen lassen mußte. Es wurden Überlegungen angestellt, ob dies Kind nachträglich versiegelt werden könnte.12)

Apostel Schwartz begann damit, „Taufen und Versiegelungen an Entschlafenen über Lebende als Schale durchzuführen"13). Begründet wurde die Einführung dieser Praxis mit 1 Kor 15,29:

Was machen sonst, die sich taufen lassen über den Toten, so überhaupt die Toten nicht auferstehen? Was lassen sie sich taufen über den Toten?14)

Anfangs nannte man die Entschlafenen, die z. B. versiegelt werden sollten, namentlich15). Am zweien Ostertag 1874 wurde der Reformator Martin Luther versiegelt, am Himmelfahrtstag des gleichen Jahres auch Melanchthon, Zwingli, Calvin und andere bekannte historische Persönlichkeiten16). Darüber schrieb Apostel Schwartz in De Herinnering unter anderem:

Und denkt euch nur, am Ende des Gottesdienstes kam eine Weissagung (doch ich habe sie noch nicht empfangen): „Ich, der Herr … gedenke heute an meinen Knecht Martin Luther, damit er zu meiner Braut gehöre. Mein Knecht Verkruisen, gehe zu meinem Knecht, dem Apostel, und lasse dich taufen für meinen Knecht Martin Luther." Mithin gehört Vater Luther fortan zu den Erstlingen und wohl zum Stamme Juda!17)

Bei Versiegelungen wurden Lebende und Entschlafene gezählt und entsprechende Statistiken im Herold, einem von Apostel Menkhoff herausgegebenen „Monatsblatt für wahrheitsliebende Christen", veröffentlicht.

Diese Angaben über die Anzahl der Entschlafenen, die in Gottesdiensten versiegelt wurden, setzt sich fort bis zum „Herold" von Januar 1904 (Nr. 102). Auf Seite 5 dieser Nummer ist eine Statistik abgedruckt für das Jahr 1904. Aus dieser Statistik kann entnommen werden, daß weltweit 10177 Lebende versiegelt wurden und 2597 Entschlafene.18)

Nach Taufe und Versiegelung wurde 1886 das Abendmahl als drittes Sakrament für die Entschlafenen eingeführt19).

Im Januar 1898 gab Stammapostel Krebs in einer „Belehrung" Anweisungen über die Sakamentsspendung für Entschlafene. Beim Abendmahl sollte wie folgt vorgegangen werden:

Darum werden die Träger des Amts der älteste anwesende Diakon und älteste anwesende Diakonissin dazu ausersehen, erst für sich in der Reihenfolge zu genießen, dann stehenbleiben oder wieder hervortreten und am Schlusse für alle entschlafenen Versiegelten von der ersten bis zur jetzigen Christenheit das heilige Abendmahl nehmen, wobei der die Speise Darreichende sagt: „Ihr entschlafenen heiligen Geister, nehmet hin den Leib und das Blut Jesu, Eures Erlösers, zum Leben. Amen."20)

Nach demselben Schreiben sollten zu versiegelte Entschlafene stets („durch Gesichte und sonstige Beunruhigung des Herzens") namentlich genannt werden; einerseits um zu vermeiden, dieselben Entschlafenen mehrfach zu versiegeln, andererseits befürchtete man offenbar, dass sonst unreine Geister die Handlung stören könnten:

Da den Aposteln die Schlüssel der Hölle und des Todes mit der Macht zum Auf- und Zuschließen gegeben ist, so ist doch wohl klar, daß durch die Taten im Totenreiche alles bewegt wird, wie es hier geschieht, wo sich das Licht zeigt und damit auch unreine Geister sich mit vordrängen, aber von dem Geiste Gottes nicht bestehen können und offenbar werden müssen.21)

Hier ist auch zum ersten Mal von Schlüsseln im Zusammenhang mit der Arbeit an Entschlafenen die Rede. Mit der Macht, zu lösen und zu binden22), wurden die Regelungen der „Belehrung" für die ganze Kirche verbindlich erklärt. Die Löse- und Bindegewalt bezog sich also auf die den Aposteln übertragene Vollmacht, für die Kirche vor Gott gültige Regelungen zu treffen.

Auf einer Apostelversammlung wurde 1910 festgelegt,

daß bei der Versiegelung der Entschlafenen genau so verfahren werde wie beim Totenabendmahl, und zwar sollen nur noch 2 Amtsgefäße als Körbe dienen, in diese wird die Versiegelungshandlung gelegt für die Entschlafenen, welche von den einzelnen Gliedern im Geiste zugeführt sind. Die Gemeinde dient als lebendiger Weg für die Verlangenden und führt dieselben an die Amtsgefäße heran, welche vom Apostel von Fall zu Fall gewählt werden.23)

Im Jahre 1916, auf dem Höhepunkt des 1. Weltkrieges, wurden sogar Ämter für das Jenseits eingesetzt.24)

Am 28. Juli 1916, also in einer Zeit des großen Sterbens mitten im Ersten Weltkrieg, wurden in Bielefeld Ämter für das Jensseits eingesetzt, die von abgeschiedenen Aposteln, Bischöfen, Ältesten usw. eingenommen werden, um unter den Entschlafenen das Heilswerk fortzusetzen.25)

Im Prinzip wird die genannte Praxis der Sakramentsspendung für Entschlafene seit 1910 bis heute beibehalten. Geändert hat sich jedoch das Verständnis, wie die Entschlafenen aus ihren Gefängnissen gelangen und „zum Gnadenstuhl im Apostelamt"26) geführt werden und welche Rolle Jesus, der Stammapostel und die Dienstleiter in den einzelnen Gemeinden dabei einnehmen. Zunächst war es üblich, die Entschlafenen in einem besonderen Gebet zum Bezirks- oder Stammapostel zu „überweisen". Das änderte sich ab 1989 (diese Erkenntnis ist offenbar noch nicht allgemein bekannt):

In der Bezirksapostelversammlung vom 12. Mai 1989 in Waterloo, Kanada, wurde das Thema „Überweisung der Seelen aus der Ewigkeit bei Gottesdiensten für die Entschlafene“ behandelt. Hierzu führte der Stammapostel sinngemäß aus: Für die Seelen aus den jenseitigen Bereichen spielt die Uhrzeit auf Erden keine Rolle, da sie nicht an diese Zeitzonen gebunden sind. - Eine „Überweisung" der Seelen ist nicht notwendig. Aus diesem Grund wird nun ein Gebet gesprochen, das den Zeitpunkt offenläßt, wann die bereiteten Seelen dorthin gelangen, wo der Bezirksapostel oder Stammapostel die Handlungen durchführen.27)

Die Einführung von Sakramentsspendungen für Entschlafene an lebenden Stellvertretern erscheint aus zwei Gründen durchaus vernünftig:

  1. Die Hinterbliebenen von ungetauften oder unversiegelten Entschlafenen erhalten so Trost und können darauf hoffen, dass ihre Lieben die heilsnotwendigen Sakramente und somit das Heil erlangen, um an der ersten Auferstehung teilnehmen zu können. Darüber hinaus lässt die Sündenvergebung (im Zusammenhang mit dem Heiligen Abendmahl) für Entschlafene darauf hoffen, dass auch Glaubensgeschwister, die vermutlich nicht im Frieden mit Gott diese Welt verlassen haben (etwa wegen nicht beigelegter Familienstreitigkeiten oder gar wegen Selbsttötung), noch erlöst werden können.
  2. Vor dem Hintergrund des Selbstanspruches der NAK, „das wiederaufgerichtete Erlösungswerk unseres Gottes" und die „direkte und unmittelbare Fortsetzung der ersten apostolischen Kirche" zu sein, „mit der sie die alleinige Kirche Christi bildet und Gottes Volk ist"28), ergab sich zwangsläufig folgendes Problem: Alle Menschen, die in der apostellosen Zeit geboren und gestorben waren, mussten als unerlöst gelten29). Die Gnade Gottes musste jedoch auch diese Seelen erreichen, was nur durch das Entschlafenenwesen und sakramentale Handlungen an den Entschlafenen möglich wurde.

Andererseits kann man argumentieren, der Auftrag der Kirche beschränke sich darauf, die Lebenden zum Heil zu führen; es genüge, für die Toten in Gebeten einzutreten. Das Jenseits sei ein Bereich, für den Jesus Christus persönlich zuständig sei30). Das weitere Schicksal der Verstorbenen liege in der Hand des barmherzigen Gottes.

Teile der früheren Praxis des Entschlafenenwesens (wie die Versiegelung der Reformatoren, S. 3) werden in der offiziellen Geschichtsschreibung der NAK ausgeklammert und finden keinen Eingang in Lehr- und Geschichtsbücher. Als gewöhnliches Kirchenmitglied erfährt man nichts darüber. Wie die Kirchenleitung heute dazu steht, bleibt ebenso im Dunkeln.

Die Schlüsselgewalt

Stammapostel Niehaus schrieb 1909 in der Schrift Lichtblicke ins Totenreich:

Ich achte, daß es gut ist, auch für die Entschlafenen im Dienste zu bitten, aber auch in sonstigen Gebeten, damit auch die noch gerettet werden, die nicht glauben konnten, die Satan gebunden hat mit Stricken der Finsternis. … In der Hand von Christo Jesu, als in seinen Aposteln, ist der Schlüssel zum Himmelreiche, aber auch in derselben Hand der Schlüssel zur Hölle und dem Tode, und wo mit dem Schlüssel die Erkenntnis aufgeschlossen wird, wer will da zuschließen?31)

Wenngleich hier von Schlüsseln zum Himmelreich bzw. zur Hölle und zum Tod die Rede ist, sah man im Zusammenhang mit sakramentalen Handlungen an Entschlafenen keine Notwendigkeit, von einer Schlüsselgewalt Gebrauch zu machen.

Im Lehrbuch über Fragen und Antworten von Stammapostel Niehaus (1916) heißt es zu der Frage, was zur Erlösung der Entschlafenen notwendig sei, unter anderem:

  1. Eine glaubensmächtige Anwendung der Schlüsselgewalt der Apostel Jesu Christi.
  2. Müssen dann welche sein aus der Gemeinde, die als Mittelspersonen dienen, an welchen die Handlung stellvertretend für die seelisch und geistig mit dem Gemeinschaftsleibe gläubig und verlangend Verbundenen geschieht.32)

Doch erst seit 1959 „machen die Stammapostel öffentlich im Eingangsgebet der drei Entschlafenen Gedächtnis-Gottesdienste von ihrer besonderen Schlüsselgewalt Gebrauch"33). Am 1. März 1959 hielt Stammapostel Bischoff einen Entschlafenengottesdienst und schloss die jenseitigen Bereiche auf:

Im Namen Jesu, des Auferstandenen, schließe ich hierdurch zunächst die jenseitigen Bereiche auf, damit die bereiteten Seelen zum Altar des Herrn gelangen können. Den Engeln sei Auftrag gegeben, die Tore zu besetzen, damit kein Unreiner hindurchgehe. So wollest du, guter Vater, auch denen gnädig sein, die in Hoffnung gefangen gelegt sind, und wir bitten dich, daß du uns als Werkzeuge in deiner Hand vollendest, um den Seelen helfen zu können.34)

In einem Rundschreiben vom 20. August 1959 schrieb Stammapostel Bischoff zur Erklärung dieser neuen Praxis:

Aus dieser von Judas Makkabäus, von Jesus und vom Apostel Paulus durchgeführten Seelenarbeit haben wir Beweise genug, wie auch wir uns den Entschlafenen gegenüber verhalten sollten, um ihnen eine Hilfe zur Errettung ihrer Seele zu sein. Jesus hat deshalb in weiser Voraussicht die Schlüsselgewalt in die Hände des jeweiligen Stammapostels gelegt, um entsprechend handeln zu können. Es hat lange Zeit gedauert, bis es dem Geist des Herrn möglich wurde, die Erkenntnis zu bewirken, daß die Schlüsselgewalt auch angewandt werden soll.

Die Dienste für die Entschlafenen wurden ja früher auch im Segen durchgeführt, aber da mußte der Herr Jesu die Tore auftun; denn er hat ja, wie wir in Offenbarung 1,18 lesen, die Schlüssel der Hölle und des Todes. Also er konnte aufschließen, wann er wollte. Dies war jedoch nicht seiner Anordnung entsprechend; denn die Arbeit an den Seelen der Lebenden und Entschlafenen sollte auf Erden geschehen. Dazu hatte er seine Apostel mit allem, was zur Erlösung an Menschenseelen erforderlich war, ausgerüstet. An ihnen sind die Worte des Herrn laut Jesaja 61,1-3 erfüllt; denn sie haben zu dieser Arbeit den Geist des Herrn empfangen.35)

Zunächst wurde die Schlüsselgewalt jeweils zu Beginn eines Entschlafenengottesdienstes eingesetzt. Dadurch sollten die Ewigkeitsbereiche für 24 Stunden aufgeschlossen und die geöffneten Tore durch Engel bewacht werden, damit die bereiteten Seelen zum Altar gelangen konnten.

Eine kleine Änderung gab es 1980 unter Stammapostel Urwyler, der das Öffnen der Jenseits-Tore auf den vorhergehenden Abend verlegte (durch die Zeitverschiebung beginnt der Sonntag in anderen Ländern, z. B. in Australien, wenn bei uns noch Samstag ist).36)

Von Januar 1991 an wurde der Begriff der Schlüsselgewalt des Stammapostels differenzierter betrachtet37):

  • Die „Lossprechungsgewalt" (nach Mt 18,18 und Joh 20,23) „ist den Aposteln in ihrer Gesamtheit gegeben". Aufgabe des Stammapostels ist es, der Kirche „Gebote und Verordnungen zu geben, die im Himmel gültig sind".
  • Die Schlüsselgewalt des Stammapostels umfasst „die Macht, den Gnade suchenden Seelen in der jenseitigen Welt die Tür zum Reich Christi zu öffnen".
  • Jesus hat die Schlüsselgewalt über Tod und Hölle (Offb 1,18) und öffnet „in der jenseitigen Welt jenen Seelen, die auf Erlösung warten, die Bereiche (= Gefängnisse) und führt sie zu der Stätte der Hilfe, die auf Erden im Stammapostel und den Aposteln aufgerichtet ist."

Der Zugang der Entschlafenen zum Altar wurde nunmehr freigemacht, indem der Stammapostel „mit dem Schlüssel des Himmelreichs die Zugänge zum Hause und Werke Gottes … die Zugänge zum lebendigen Altar … den Zugang zum Apostolat Jesu Christi" öffnete und Gott darum bat, dass durch den Engeldienst „diese Zugänge offenbleiben, bis alle Erlösungsarbeit getan ist"; anschließend bat er Jesus, mit seinen „Schlüsseln des Todes und der Hölle, alle Gefängnisse in jener Welt, all die vielen Bereiche" zu öffnen.38)

In einer weitgehenden Lehränderung wurde im März 2001 der Begriff der Schlüsselgewalt durch „Schlüsselvollmacht“ ersetzt. Der Bezug zum Entschlafenenwesen wurde aufgehoben:

Die jenseitigen Bereiche sind durch das einmal gebrachte und ewig gültige Opfer Jesu Christi geöffnet. Sein Opfer macht jeder heilsverlangenden Seele den Zugang zur Erlösung frei. Es besteht keine zwingende Notwendigkeit, die Zugänge zum Altar und zum Reich Gottes durch ein besonderes Gebet des Stammapostels vor einem Gottesdienst für Entschlafene aufzuschliessen.39)

Der Schwerpunkt der neuen Schlüsselvollmacht lag nun auf der Kirchenleitungsfunktion:

Unter dem Bild der Schlüssel [in Mt 16,19] wird weniger eine Pförtnerfunktion beschrieben im Sinn von: Zugang verwehren und Zugang verschaffen. Vielmehr muss an eine Bevollmächtigung gedacht werden. Der Textstelle ist zu entnehmen, dass der Herr seinen Apostel Petrus zum bevollmächtigten Verwalter seines Werkes erheben wollte.40)

Zusammenfassung

Das Entschlafenenwesen hat sich in mehreren Stufen entwickelt:

  1. Ursprünglich (in den Katholisch-Apostolischen Gemeinden) wurde in Fürbitten für die Entschlafenen eingetreten.
  2. Apostel Schwartz begann 1872 mit sakramentalen Handlungen an Entschlafenen, die durch Gesichte und Weissagungen namentlich genannt wurden.
  3. Später (wann, lässt sich wohl nicht mehr feststellen) ging man dazu über, die Sakramente für die Entschlafenen anonym zu spenden.
  4. Stammapostel Niehaus setzte 1916 (anscheinend einmalig) Amtsträger für die Erlösungsarbeit im Jenseits ein.
  5. Stammapostel Bischoff kam 1959 zu der Erkenntnis, dass Jesus in die Hände des jeweiligen Stammapostels die Schlüsselgewalt gelegt habe. Mit diesen Schlüsseln wurden die jenseitigen Bereiche aufgeschlossen, jeweils (zunächst unmittelbar, später mehrere Stunden oder einen Tag) vor einem Gottesdienst für Entschlafene.
  6. Durch Stammapostel Fehr wurde 1991 die Schlüsselgewalt zweigeteilt: Der Stammapostel öffnete mit den Schlüsseln des Himmelreichs den Zugang zum lebendigen Altar, Jesus öffnete mit den Schlüsseln des Todes und der Hölle die Gefängnisse in jener Welt.
  7. Nach sorgfältiger Auswertung der Heiligen Schrift kam Stammapostel Fehr 2001 zu der Erkenntnis, dass die jenseitigen Bereiche bereits durch das Opfer Christi geöffnet seien und mit Schlüsselgewalt (nun Schlüsselvollmacht genannt) die Vollmacht, zu lehren und die Kirche zu leiten gemeint sei.

Die verschiedenen „Schlüssel" waren im Lauf der Zeit folgendermaßen verteilt:

Zeitraum Schlüssel zum Himmelreich Schlüssel zur Hölle und zum Tod
Bis 1959Jesus Christus in den Aposteln. Mit den Schlüsseln werden Erkenntnisse (z. B. über die Notwendigkeit der Entschlafenenversiegelung) aufgeschlossen.
Bis 1991Stammapostel. Mit den Schlüsseln werden die Bereiche zum Jenseits geöffnet.
Bis 2001Stammapostel. Mit den Schlüsseln wird der Zugang zum Altar geöffnet.Jesus Christus. Mit den Schlüsseln werden die Bereiche zum Jenseits geöffnet.
Seit 2001Stammapostel. Mit den Schlüsseln ist das Recht verbunden, die Kirche vollmächtig zu leiten.Jesus Christus. Die jenseitigen Bereiche sind seit seinem Opfer dauerhaft geöffnet.

Angesichts der Entwicklung der Lehre von der Schlüsselgewalt fällt es schwer, hier von einer zielgerichteten Führung des Heiligen Geistes zu sprechen. Einmal hat Jesus Christus die Schlüssel in seiner Hand, dann der Stammapostel, zuletzt teilt sich der Stammapostel mit Jesus die Schlüssel; außerdem werden die Schlüssel zu verschiedenen Zeiten für unterschiedliche Aufgaben (um im Bild zu bleiben: Schlösser) benutzt.

Bei der Vermittlung der neuen Lehre wurde keine Aussage darüber gemacht, wie die alte Praxis im Licht aktueller Erkenntnis zu beurteilen sei; ob die Stammapostel (einschließlich Stammapostel Fehr) vor der letzten Lehränderung mit dem Bereicheaufschließen die ihnen zustehende Kompetenz überschritten haben, bleibt offen.

4.4.3 Entschlafenenwesen und Spiritismus

Die Entstehung der Katholisch-Apostolischen Gemeinden im 19. Jahrhundert fiel in eine Zeit, die einerseits von einem zunehmend raschen industriellen Fortschritt geprägt war und andererseits gesellschaftliche Umwälzungen mit sich brachte. In dieser Zeit war auch in Bezug auf den Glauben einiges in Bewegung.

Mitte des 19. Jahrhunderts war der Beginn des modernen Spiritismus, der von der Existenz und Wirksamkeit einer überzeitlichen, körperlich ungebundenen, jenseitigen Geisterwelt ausgeht und versucht, das Fortleben der Seele oder des Geistes nach dem Tod mit wissenschaftlichen Methoden zu beweisen. Rudolf Passian schrieb 1991 in einem Buch über Esoterik41):

Der Beginn des sogenannten modernen Spiritismus setzt mit dem Jahre 1848 ein. … Im deutschen Sprachraum erlebten Spiritismus und Spiritualismus ihre Blütezeit ungefähr von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg. … Nach 1945 konnte sich der deutsche Spiritualismus nie mehr so recht erholen. … Hinsichtlich des Todesproblems wird in der Parapsychologie mit zwei Grundhypothesen gearbeitet, mit der animistischen (vom lat. anima = Seele) und der spiritistischen. … Da nun Jenseitige [nach der spiritistischen Grundhypothese] weiter nichts sind als Menschen ohne physischen Leib, müssten Kommunikationsmöglichkeiten unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein.

Der Spiritismus hatte großen Einfluss auf viele Bereiche, z. B. Psychologie, Kunst, Lebensphilosophie und Esoterik bzw. New-Age. Obwohl der Spiritismus von den christlichen Kirchen (auch der NAK!) gemeinhin abgelehnt wurde, fand er auch bei Christen Zuspruch. In einer Gegenüberstellung wird deutlich, dass es einige wesentliche Übereinstimmungen, aber auch wesentliche Unterschiede zwischen dem (spiritistischen) Spiritismus und dem neuapostolischen Entschlafenenwesen gibt.

Spiritismus Entschlafenenwesen
Beginn 1848, Höhepunkt ca. 1890-1914Beginn 1872; Höhepunkt ca. 1874-1910
Es wird streng zwischen Körper und Geist unterschieden. Der Geist ist das Wesentliche, der Körper lediglich eine Hülle.Es wird zwischen dem sterblichen Leib und der unsterblichen Seele unterschieden. Die Seele ist das Wesentliche.
Sensibilisierte Personen können Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen.In Gesichten und Träumen können sich Verstorbene den Lebenden mitteilen.
Die Seele ist unsterblich, da sie feinstofflich ist.Die Seele ist unsterblich.
Die Lebenden können den Verstorbenen behilflich sein, sich weiter zu entwickeln. Verstorbene können aber auch die Lebenden positiv oder negativ beeinflussen.Durch Gebete und sakramentale Handlungen können Verstorbene erlöst werden.
Es ist möglich, mit Verstorbenen aktiv Kontakt aufzunehmen, z. B. über Gläserrücken, Tonbandstimmen, Pendeln oder durch sensible Medien (Zitieren Jenseitiger in Séancen).Eine Kontaktaufnahme geschah früher durch Gaben des Heiligen Geistes, z. B. durch Weissagungen und Träume. Bei sakramentalen Handlungen werden die Entschlafenen eingeladen.
Eine Person dient als Mittler (Medium) zwischen der Welt der Geister und der alltäglichen Realität. Geister machen sich z. B. durch Materialisationen, Klopfzeichen, automatisches Schreiben etc. bemerkbar.Zwei Amtsträger vermitteln zwischen Dieseits und Jenseits als Amtskrippe, aus der die Verstorbenen die Sakramente empfangen können.
Die Wiederverkörperungslehre (Reinkarnation) ist verbreitet; manche Richtungen lehnen die Reinkarnation ab.Die Reinkarnation wird abgelehnt, da diese Lehre nicht mit der Auferstehung vereinbar sei.42)
Mit wissenschaftlichen Methoden will man die Unsterblichkeit der Seele beweisen.Träume über Verstorbene gelten als Beweis für ein Leben der Seelen im Jenseits und für ihre Erlösungsbedürftigkeit und Entwicklungsfähig­keit.
Auch Tiere und vielleicht sogar Pflanzen haben eine Seele, die den Tod überlebt.Nur Menschen haben eine Seele. Träume von verstorbenen Tieren werden nicht als Beweis für deren Weiterleben angesehen.43)
Auf die Gestalt Christi wird zumeist kein Wert gelegt.Christus und sein Opfer sind zur Erlösung unumgänglich.

Wenngleich die NAK spiritistische Praktiken scharf ablehnt, drängt sich der Eindruck auf, das Entschlafenenwesen sei direkt von spiritistischen Gedanken beeinflusst. Diese Feststellung soll kein Werturteil und auch keine Verurteilung sein, sondern ausschließlich die Hintergründe ein wenig beleuchten, vor denen das neuapostolische Entschlafenenwesen entstehen konnte.

Das neuapostolische Entschlafenenwesen wurde von Vertretern anderer Kirchen als widerchristlich und spiritistisch verurteilt. So schrieb W. Geppert in den 50er Jahren über die neuapostolische Totenversiegelung, hier werde „mit spiritistischen Tricks" gearbeitet44). M. Krawielitzki schrieb um 1930:

Wie schon bei der „Weissagung" vermerkt, so geht erst recht aus der für die „Totenversiegelung" angeführten Begründung hervor, dass die „Neuapostolischen" mit spiritistischen Kräften arbeiten. Nirgends gibt die Heilige Schrift den Gläubigen die Anweisung, mit den Verstorbenen zu verkehren oder für sie zu beten. Dies wird aber den „neuapostolischen" Gemeindegliedern nahegelegt mit dem Erfolg, dass Satan Eingang gewinnt. Schon aus diesem Grunde liegt die „Totenversiegelung" ausser dem Bereich der Möglichkeit.45)

Diese Kritik entsprang sicher zum Teil einer ernsthaften Sorge um das Seelenheil der Neuapostolischen. Doch es führt bei objektiver Betrachtung sicher zu weit, das Entschlafenenwesen aufgrund einiger Übereinstimmungen pauschal mit Spiritismus gleichzusetzen.

Allein mit biblischem Hintergrund lässt sich die Überzeugung, den Entschlafenen könne nachträglich geholfen werden, nicht begründen, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll.

4.4.4 Kurze Geschichte des Lebens nach dem Tod

Jenseitsvorstellungen im gegenwärtigen Christentum

Biblisch bzw. religionsgeschichtlich ist die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod recht uneinheitlich, und selbst im gegenwärtigen Christentum ist eine Vielfalt von Vorstellungen darüber zu finden:

  • Der Tod ist das absolute Ende. Die Toten leben in gewisser Weise durch ihre Taten und im Andenken der Lebenden weiter. Dass Jesus, wie die Bibel berichtet, von den Toten auferstanden sei, ist nichts weiter als die Interpretation eines glaubensstiftenden Ereignisses nach seinem Tod. Die Sache Jesu geht weiter, Jesus lebt in seiner Gemeinde (und nur dort) weiter.46)
  • Der Tod ist zunächst das Ende jeglicher Existenz47). Die Hoffnung der Christen richtet sich auf die Auferweckung (bzw. Auferstehung) bei der Wiederkunft Jesu. Aus subjektiver Sicht ist der Tod ein direkter Durchgang zur Auferstehung. Aus der Sicht der Lebenden existieren die Toten nicht mehr (bzw. nur in der Erinnerung), man kann keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen.
  • Der Tod ist nicht das Ende. Im Tod vollzieht sich die Auferstehung, d. h. die Erhöhung zu Gott, ein Übergang in ein ewiges Leben hinein (oder, je nachdem stattdessen die Verdammung zum ewigen Tod). Der Tod ist gewissermaßen aufgehoben. Auf die Auferstehung im Tod richtet sich die Hoffnung der Christen.48) Ob den Verstorbenen nachträglich geholfen werden kann oder ob man mit ihnen in Verbindung treten kann, ist fraglich. Wenn diese Möglichkeit angenommen wird, beschränkt sich die Hilfe auf Gebete für die Verstorbenen, eventuell zusätzlich unterstützt durch die Heiligen im Himmel, sowie auf Gottes freies Handeln.
  • Der Tod ist ein Übergang in eine jenseitige Welt, der Entschlafene hat ein Bewusstsein, kann denken, fühlen und handeln und sich in mehr oder weniger beschränktem Umfang weiterentwickeln. Im Jenseits gibt es verschiedene Bereiche, denen die Entschlafenen zugeordnet werden und die ihrem Seelenzustand entsprechen.49)
  • Der Tod ist ein Übergang in eine neue fleischliche Existenz, die Seele ist der Reinkarnation unterworfen50). Der Wiederverkörperungsprozess endet mit der Erreichung individueller Vollkommenheit.

Jenseitsvorstellungen im Judentum bis zur Zeitenwende

Die folgende Darstellung folgt hauptsächlich der Darstellung Hans Kesslers in dem Buch Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Die Auferstehung Jesu Christi. Zitate sind, wenn nicht anders angegeben, daraus entnommen. Der Schwerpunkt liegt bei Kessler zwar nicht auf der Entwicklung der Todes- oder Jenseitsvorstellung, sondern der Auferstehungshoffnung, doch sind beide Themen naturgemäß eng miteinander verknüpft. Die Entwicklung der Todes- bzw. Auferstehungsvorstellung wird über mehrere Stationen der Geschichte verfolgt: die Gegebenheiten im alten Israel, die Zeit im (und kurz nach dem) Exil, die spätnachexilische Zeit bis zur Zeitenwende.

Gegebenheiten im alten Israel

Für die Menschen im alten Israel ist Gott Herr über Leben und Tod, d. h. er hat die Macht, Leben zu geben und zu nehmen, aus schwerer Krankheit (der Sphäre des Todes) zu retten, den Schwachen aufzurichten und den Armen aus dem Schmutz zu „erhöhen" (1 Sam 2, 6-8). „Nur der Tod selbst und die Welt der Toten sind - so scheint es - seiner Macht entzogen." [S. 45f]

Der Tod stellt das von Gott selbst gesetzte Ende des Lebens dar, daher ist er - wie auch das Leben selbst - ohne Aufbegehren als Realität hinzunehmen. Israel begegnet dem beklagenswerten, aber unwiderruflichen Tod „mit äußerster Nüchternheit und mit gefaßter Ergebenheit" [S. 46]. Mit dem Tod kehrt die Lebenskraft zu Gott zurück.

Der Todesbegriff beschränkt sich nicht auf das Ende des irdischen Lebens, er hat einen weiten Bedeutungsumfang: „Jeder Verlust der Vitalität (Depression, Erschöpfung, Angst, Unterbrechung von Gemeinschaft), vor allem jede schwere Lebensminderung und -gefährdung (Krankheit, Feindbedrängnis) ist ein Zeichen der Macht des Todes; in solcher Beeinträchtigung des Lebens wirft der Tod seine Schatten voraus, ragt er ins Leben hinein". Entsprechende Bibelstellen (etwa Ps 18) sind vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Der Tod wird zwar als das Ende des Lebens, nicht aber als das Ende der Existenz angesehen. Im alten Orient (auch in Israel) war diese Vorstellung verbreitet: Die Verstorbenen existieren (oder vegetieren) in der Unterwelt (Scheol bzw. Hades) weiter, einem „gemeinsame[n] Todesreich in kosmischer Tiefe, das mit den Gräbern der Toten verbunden ist" [S. 47]. Hier „kümmern die Toten dahin in einem noch immer leiblichen, wenngleich leblosen, kraft- und freudlosen Schattenbild ihres ganzen ehemaligen Daseins (vgl. etwa 1 Sam 28,13f; Jes 14,9f; Nah 3,18; Ijob 14,21; Koh 9,5). Die Bezeichnung Leben verdient dieser ereignis- und aussichtslose Schattenzustand nicht, noch das kläglichste Leben auf Erden ist ihm vorzuziehen. … Das Schicksal der Toten ist endgültig."

Für Israel ist diese Situation doppelt bitter, denn die Unterwelt bedeutet zugleich Gottesferne: die Lebenden sind nicht nur von den Lebenden, sondern auch von Gott getrennt (Ps 88,6). „In einem ganz ausschließlichen Sinne ist Jahwe ein Gott der Lebenden: wo er ist, ist Leben; wo Tod ist, ist er nicht. Und so steht der Israelit nach dem Tod außerhalb des für ihn so unbedingt wichtigen irdisch-geschichtlichen Lebensbereiches, in dem es allein die Möglichkeit des Heils, der Teilhabe am Gottesverhältnis gibt. Dies ist der eigentliche Stachel des Todes für Israel: die mit ihm verbundene Trennung und Ferne von Jahwe, dem Gott des Lebens und des Bundes." [S. 48]

Einigermaßen erträglich wurde dieses negative Verhältnis zur Totenwelt zunächst durch den Glauben, der Einzelne kehre im Familiengrab in den Schoß der Sippe zurück; dann war auch der Gedanke wichtig, als Volk von Gott erwählt und mit ihm verbunden zu sein.

Exilszeit

Die Zerstörung Jerusalems (587 v. Chr.) und das Exil wurden als Entzug des Segens Gottes als Folge der Sündhaftigkeit Israels gedeutet. Das Volk war in seiner Existenz vernichtet und seiner Identität beraubt, also „tot". In diese Situation hinein prophezeit Hesekiel (Ezechiel) die nationale Auferstehung51). Dabei geht es nicht um die individuelle Auferstehung Verstorbener, sondern um die Wiederherstellung des Volkes Israel zu neuer Größe.

In nachexilischer Zeit fasste man im Hinblick auf eine Endzeit „keine Abschaffung des Todes ins Auge, sondern allenfalls eine relative Verlängerung des irdischen Lebensalters und eine Vermeidung vorzeitigen Todes. So hofft man ‚materialistisch' darauf, daß Gott ‚einen neuen Himmel und eine neue Erde' schafft, ohne Weinen und Wehklagen (Jes 65,17ff), von paradiesischem Frieden durchwaltet (60,18.21; 65,25), wo ‚als jung gelten wird, wer mit hundert Jahren stirbt' (65,19f; vgl. Sach 8,4). Es bleibt dabei: er stirbt. Der Tod wird nicht entmachtet, nur die Lebensgrenze wird hinausgeschoben." [S. 51f] Allerdings gibt es schon vor dem Exil „frühe Vorandeutungen der späteren Auferstehungshoffnung". Kessler nennt hier verschiedene Bibelstellen wie 2 Kön 4,31-37 (Totenerweckung durch Elisa als Beweis der Macht Gottes über den Tod) und 2 Kön 2,11 (leibliche Entrückung Elias durch Gott in den Himmel).

Spätnachexilische Zeit

Im späten Israel (bzw. frühen Judentum) findet man „eine recht differenzierte Welt mit verschiedenen Strömungen lebendiger Traditionsvermittlung und Aussagenbildung. … In mindestens drei von ihnen … erfolgt - etwa gleichzeitig, doch in unterschiedlichem Bezugsrahmen - der entscheidende Durchbruch der Hoffnung auf Überwindung der Todesgrenze (auch für den Einzelnen)." [S. 54] Dabei handelt es sich um die prophetische Tradition, die weisheitliche Tradition und die apokalyptische Bewegung.

In der prophetischen Tradition wird das Bekenntnis „Gott ist der Herr"52) universalisiert: Gott ist nicht nur zeitloser König und von Israel als Herr anerkannt, sondern Gott wird sich in der Zukunft als universaler König erweisen, der er bereits (im Verborgenen) ist. Mit der Übernahme der universalen Herrschaft Gottes geschieht mit dem Tod das, was er sonst den Menschen antut: „Er (Gott) vernichtet den Tod für immer. (Jes 25,8a)" Offen bleibt, ob der Tod auch rückwirkend vernichtet wird und die Toten an dem umfassenden endzeitlichen Heil teilnehmen oder ob lediglich die dann Lebenden nicht mehr sterben müssen.

Die weisheitliche Tradition hat den Einzelnen im Blick. Bis zum Exil sah man Gottes gutes Walten darin, „daß es dem Gerechten gut geht, über den Frevler aber das Verderben hereinbricht (z. B. Ps 1 und 37), [danach aber] werden Leiden und Tod des jahwetreuen (gerechten) Einzelnen überhaupt erst zum unausweichlichen Problem: warum muß gerade der Gerechte leiden und gewaltsam sterben, während der Gottlose im Glück lebt (z. B. Ijob 21,7; 12,6; Ps 73,3.12 …)?" [S. 58f] Die bisherige Vorstellung von einem Schattendasein in der Unterwelt bot keinen Trost. Es war bereits klar, dass Gott aus Krankheit, Anfeindung und Unglück (d. h. vor dem Tod) erretten kann; von da aus war es noch ein Schritt zur Überzeugung, dass Gott auch aus dem Tod retten könne (so Ps 49 und 73, vor 200 v. Chr.).

Im apokalyptischen Zusammenhang begegnet die eigentliche Vorstellung von einer Auferstehung der Toten. Die Apokalyptiker erwarten in unmittelbarer Zukunft eine neue Welt, in der Gott als Richter erscheint und der Gerechtigkeit endgültig zum Durchbruch verhilft. Apokalyptische Elemente enthält bereits Jes 46,7-21 (zwischen 300 und 200 v. Chr.), nämlich das nahe endzeitliche Gericht und die Auferstehung der Toten, wobei allerdings die „anderen" Herren von der Auferstehung ausgeschlossen werden.

Völlig eindeutig und unbestritten spricht nur ein einziger Text des hebräischen Alten Testaments von einer Auferstehung der physisch Toten: Dan 12, 1-4. … Der Text stammt in seiner Endgestalt aus der Makkabäerzeit (genauer: aus den Jahren 167 bis 164 v. Chr.). … Der Verfasser der Danielapokalypse gehört zu den Chassidim [„die Frommen" - Widerständler gegen die Hellenisierungspolitik der syrisch-seleukidischen Weltmacht]. [… Es wird] für die Zeit nach den aktuellen Wirren die unmittelbar anbrechende eschatologische Drangsal (also eine nochmalige Steigerung der Not) an[gekündigt], zugleich aber auch die Wende: die Rettung des in der Not standhaften, auch das Martyrium nicht scheuenden wahren Israel (Dan 12,1) und die Auferstehung der Toten: „und viele von denen, die schlafen im Lande des Staubs (Scheol), werden erwachen, die einen zu ewigem Leben, die anderen zu Schmach, zu ewigem Abscheu" (Dan 12,1). Dabei ist zunächst nicht an eine allgemeine Auferstehung gedacht: „viele von" den Toten werden auferstehen. Unklar und umstritten ist, wer die „vielen" sind. … Beachtenswert ist …, daß das Endheil, das „ewige Leben", aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer erneuerten Erde (nach Jes 56,17ff; 66,22ff) gedacht ist und daß die Perspektive vom Gedanken der Vergeltung bestimmt bleibt; nicht bloß Gottes rettende Macht, auch seine vergeltende (!) Gerechtigkeit soll sich offenbaren. [S. 63-66]

Zeitenwende

Um die Zeitenwende gab es kein normatives oder „offizielles Judentum", es war in viele Parteien und Richtungen zerspaltet. Die wohl größten Unterschiede bestanden zwischen den in Israel lebenden (palästinensischen) aramäisch sprechenden Juden und den griechisch sprechenden Diaspora-Juden: die Unterschiede waren nicht auf die verschiedenen Sprachen beschränkt, sondern betrafen auch Kultur und Kultus. „Die Vielfalt dieser religiösen, gesellschaftlichen und politischen Gruppen ist bedingt durch die religiöse Ernsthaftigkeit, auf die unterschiedlichsten Wirklichkeitsbereiche und -erfahrungen vom Glauben her eine persönliche Antwort zu geben."53)

  • Palästinensisches Judentum

In außerbiblischen apokryphen Schriften des palästinensischen Judentums wird manchmal die Hoffnung auf eine endzeitliche, leibliche Auferstehung der Gerechten ausgedrückt, „und zwar im Sinne der Rückkehr auf eine erneuerte Erde." [S. 69f] Auch für Qumran (eine klosterähnliche Anlage jüdischer Reformer, die durch bedeutende archäologische Funde bekannt geworden ist) kann man die Erwartung einer leiblichen Auferstehung der Gerechten voraussetzen.

Die pharisäische Bewegung bekennt sich zur endzeitlichen Auferstehung Israels bzw. der Gerechten Israels auf die erneuerte Erde, aber ohne die apokalyptische Naherwartung. Diese Richtung setzte sich nach 70 n. Chr. Im Judentum durch. Im Gegensatz dazu lehnten die Sadduzäer ein Leben jenseits des Todes ab.

„Neben der Auferstehungsvorstellung spielt auch die Vorstellung der Entrückung oder Aufnahme einzelner Bevorzugter vor dem Tod in den Himmel weiterhin eine Rolle." [S. 70] Zum Kreis der Auserwählten gehören außer Elia und Henoch auch Hiobs Kinder, Baruch, Esra und andere. Nach der syrischen Baruch-Apokalypse „müssen die Toten … in ihrer früheren unveränderten Leiblichkeit wiedererstehen; dann jedoch werden die Gerechten umgewandelt in unbeschreibliche Herrlichkeit, um im himmlischen Paradies un­sterblich leben zu können, die Sünder aber werden dahinschwinden." [S. 70]

Lang und McDonnell gehen in ihrem Buch Der Himmel neben Pharisäern und Sadduzäern auch auf die Essener (Essäer) ein: „Nach Ausweis der Quellen haben auch die Essener die Befreiung der Seele aus dem Gefängnis des Körpers und ewige Ruhe in einem himmlichen Reich erwartet."54) Vielleicht hat gerade bei den Essenern die griechische Philosophie Eingang gefunden.

  • Hellenistisches Diasporajudentum

In dem griechisch verfaßten, deuterokanonischen [d. h. apokryphen] 2. Makkabäerbuch, das zwischen 100 und 50 v. Chr. (in Alexandria?) seine Endgestalt erhielt, finden sich ältere … Teile, darunter die Überlieferung von 2 Makk 7; sie geht möglicherweise auf Judenverfolgungen in Antiochien zurück. Hier (vgl. auch 12,44f; 14,46; 15,12-16) begegnet der Gedanke der leiblichen Auferstehung bereits in fortgeschrittener und deutlich nicht apokalyptischer Gestalt. Es geht nicht mehr um eine zukünftige endgeschichtliche Wende (im Sinne von Dan 12), auch nicht mehr um eine Erneuerung der Erde (im Sinne von Jes 65,17; 66,22 …), sondern nur um die Rehabilitierung der um ihre Toratreue willen getöteten Märtyrer (denen in der Geschichte keine Rechtfertigung zuteil wurde) durch ihre Auferweckung. [S. 72f]

Wie der Leib bei der Auferstehung wieder hergestellt werden soll, bleibt offen. Ebenso, wo die Auferstandenen leben werden: „wieder auf der erneuerten Erde oder sofort nach dem Tode (?) im Himmel." [S. 73f]

Die Gewissheit einer fortdauernden Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinaus wird „breiter und lehrmäßig entfaltet in der Weisheit Salomos, einem in der Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts wohl in Alexandria geschriebenen Buch des griechischen Alten Testaments (LXX)." [S. 74] Hier wird zwischen Gerechten und Frevlern unterschieden. Die Frevler erleiden den ewigen Tod in der Unterwelt (Scheol), die Gerechten dagegen gelangen sofort mit dem Tod „in Gottes Hand (Weish 3,1)", sie haben sogar Hoffnung auf Unsterblichkeit (dieses Wort steht hier zum ersten Mal im alttestamentlichen Schrifttum). Im Gegensatz zu Koh 3,18-22 ist der Tod hier nicht der Gleichmacher, sondern der große Scheider. „Nur für die Gerechten (=Bundestreuen) gilt der Dreischritt: Leben in Bewährung (bis zum Tod) - Zwischenzustand in von Gott behüteter Ruhe (bis zum Endgericht) - neues ewiges Leben bzw. Unsterblichkeit." [S. 75]

Der Seelenbegriff

Wenn hier (Weish 3,1) von der Seele (griech. psyche) die Rede ist, so ist zu berücksichtigen, dass der Mensch in der biblischen Anthropologie (Menschenkunde) immer ganzheitlich gesehen wird. „Sie bezeichnet mit Leib, Seele, Fleisch, Herz usw. nicht Teile des Menschen, sondern jeweils den einen, ganzen Menschen unter verschiedenen Aspekten; alle diese Ausdrücke können für ‚ich' stehen." [S. 322f] Mit der Seele (hebr. nephesh) ist das gottgeschenkte Leben gemeint, also der leibhaftig existierende ganze Mensch als lebendiges, gottbezogenes Lebewesen; ein Gegensatz zum Materiell-Körperlichen ist nirgends enthalten.

Der Mensch setzt sich also nicht aus Leib und Seele (und Geist) zusammen, sondern ist eine unauflösbare Einheit. Der Leib „ist nicht der Mensch als abgegrenztes, in sich geschlossenes und für sich greifbares Individuum, sondern der Mensch (1) als ganze Person (Selbst und Ich), und zwar (2) in der Gesamtheit seiner konkret gelebten Beziehungen zur Mit- und Umwelt (Mitmenschen, Geschichte, Natur)." [S. 324]

Der heutige Seelenbegriff stammt ursprünglich aus der griechischen Philosophie (vor allem Platons), die davon ausgeht, dass im vergänglichen Körper eine unsterbliche Seele verborgen ist, die den Tod überdauert. Dieser Leib-Seele-Dualismus wurde durch modernere Philosophen wie Deskartes noch verschärft.

Gisbert Greshake spricht von zwei „Hoffnungsbildern", „mit denen Menschen ihre Sehnsucht und ihr Vertrauen, daß der Tod nicht das Letzte ist, ausgedrückt haben":

Das erste [griechische]… formuliert sich als Überzeugung, daß im Menschen selbst etwas Unsterbliches ist, nämlich seine unvergängliche Seele, die vom Tod des Leibes nicht erreicht wird. Durch sie hat der Mensch Anteil am ewigen, göttlichen Leben. Stirbt der Leib, so kehrt die Seele befreit von den Fesseln der Materie in das Reich ewigen göttlichen Lebens zurück. Ganz anders ist das zweite Hoffnungsbild, das hebräisch-biblische. Die Hebräer kannten keine un­sterbliche Seele, die den Tod überdauert; sie faßten den Menschen nicht auf als zusammengesetzt aus Leib und Seele; sie verstanden ihn als eins und ungeteilt. Darum ergreift der Tod auch den ganzen Menschen; nichts gibt es, was den Tod überdauert. Hoffnung über den Tod hinaus kann es nur deshalb geben, weil man erwartet, daß Gott seinen Geist aufs neue in den Toten sendet, ihn wiederbelebt, ihn auferweckt.55)

Jenseitsvorstellungen im Christentum

Jesus musste sich natürlich mit den zu seiner Zeit geläufigen Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod auseinander setzen. Seine eigene Lehre fasste Elemente verschiedener Strömungen auf.

Nach Mt 22,23-33, Mk 12,18-27 und Lk 20,27-40 stellen einige Sadduzäer Jesus eine Frage zur Auferstehung. Jesus macht deutlich, dass diejenigen, die an der Auferstehung teilnehmen dürfen, „den Engeln gleich" (Lk 20,36) sind. „Für Jesus ist das neue Leben nicht nur geistig und unsterblich, sondern auch gleichzeitig mit der irdischen Geschichte."56) Dies geht aus Lk 20,38 hervor: „Er ist aber nicht Gott der Toten, sondern der Lebendigen; denn für ihn leben alle."

Die Auferstehung, wie Jesus sie versteht, meint die Aufnahme des einzelnen in den Himmel, und zwar unmittelbar nach dem Tod. Er verwirft die sadduzäische Verneinung eines Weiterlebens ebenso wie die apokalyptische Erwartung eines langen Lebens auf Erden. … Das himmlische Dasein ist durch die Beziehung zu religiösen Gestalten - Gott und Abraham - bestimmt, nicht mehr durch Ehepartner und Verwandte. … Derselbe Vorbehalt gegen die Familie und dieselbe Hinwendung zu Gott lassen sich in einem der Gleichnisse Jesu erkennen, der Geschichte vom reichen Prasser und armen Lazarus. … Obwohl die Parabel keine ausführliche Beschreibung des Jenseits gibt, können wir doch ein Bild davon gewinnen. Beim Tod bleibt der Körper im Grab, während die Seele in eine andere Welt eingeht. Eine Auferstehung des Leibes wird weder erwähnt noch erwartet, und die Seligkeit des Armen scheint vollständig und endgültig zu sein. Lazarus ist im Besitz der ewigen Glückseligkeit. Der Reiche dagegen wird sofort mit der Hölle bestraft. Von einer neuen Erde, die der Arme in Besitz nehmen kann, ist keine Rede. Offenbar besteht das Jenseits gleichzeitig mit der menschlichen Geschichte.57)

Schon wenige Jahre später modifizierte das junge Christentum diese Weltsicht, wie besonders in den Schriften des Apostels Paulus nachgelesen werden kann, der wieder auf apokalyptische Vorstellungen zurückgriff.

Lang und McDannell58) sehen in der Entwicklung der Himmelsvorstellungen ein Wechselspiel zwischen einem theozentrischen Modell, der Gott und die Beziehung der einzelnen Seele zu Gott in den Mittelpunkt stellt, und einem anthropozentrischen Modell, bei dem der Mensch und seine Beziehungen im Mittelpunkt stehen.

Im 19. Jahrhundert, das die katholisch-apostolische Bewegung hervorbrachte und in dem auch die neuapostolische Theologie gründet, war der Höhepunkt der anthropozentrischen Himmelsvorstellung.

Die Geburt des modernen Himmels liegt in der Mitte des 18. Jahrhunderts und geht wesentlich auf Emanuel Swedenborg zurück, der von 1688-1772 gelebt hat. Mit seinem Buch Himmel und Hölle „trat erstmals eine ernsthafte Alternative zum asketischen, theozentrischen Himmel auf den Plan"59). Zu seiner Zeit wurde die Lehre Swedenborgs wenig beachtet, dennoch setzte ein tiefgreifender Wandel ein, der auch die konventionelle Theologie erfasste.

Die neue Auffassung des Himmels, die wir als „modern" bezeichnen, weist vier Merkmale auf: Erstens gibt es nur eine schwache Trennung zwischen Dieseits und Jenseits… für die Gerechten beginnt das ewige Leben unmittelbar nach dem Tod. … Zweitens wird das Leben im Himmel nicht als etwas von der irdischen Existenz völlig Verschiedenes gesehen, sondern als deren Vervollkommnung und Erfüllung. … Die Ergötzung der Sinne … tritt nun in den Mittelpunkt des ewigen Lebens. Drittens rücken die Autoren immer mehr von einer einseitigen Beschreibung des Himmels als Ruheort ab. … Spiritueller Fortschritt ist ein ewiger Prozeß. Viertens beginnt die menschliche Liebe, die sich in der Sorge um Belange der Gesellschaft und Familie äußert, die Vorrangstellung der Gottesbeziehung zu verdrängen. … Soziale Beziehungen, auch die zwischen Mann und Frau, gelten zunehmend als grundlegend für das ewige Leben und stehen nicht mehr im Gegensatz zum göttlichen Plan. Gott wird nicht mehr nur unmittelbar geliebt; die Liebe zu Gott zeigt sich auch in der Liebe, die anderen Himmelsbewohnern geschenkt wird.60)

Das neuapostolische Jenseits trägt unverkennbar alle Züge des modernen Himmels:

  1. Eine Art ewiges Leben beginnt unmittelbar nach dem leiblichen Tod. Allerdings ist dieses Leben noch nicht ewig, da die Vollendung durch die Wiederkunft Jesu noch aussteht.
  2. Das jenseitige Leben unterscheidet sich nicht wesentlich vom Leben im Dieseits. Es gibt je nach Seelenzustand Wohnungen und Gefängnisse, soziale Kontakte werden gepflegt.
  3. Im Jenseits findet in großem Umfang Missionsarbeit statt; dadurch und durch die sakramentalen Handlungen der Kirche ist auch spiritueller Fortschritt möglich.
  4. Soziale Beziehungen spielen eine größere Rolle als die Beziehung zu Gott, die ohnehin in Vollkommenheit erst nach der Wiederkunft Jesu erlebt werden kann.

In der Gegenwart verzichten Theologen und Kirchen weitgehend darauf, über das Jenseits etwas auszusagen:

In der Theologie der Gegenwart tritt die theozentrische Himmelsauffassung wieder deutlich hervor. Im ewigen Leben werden wir es mit Gott zu tun haben; mehr wissen wir nicht. Theologen verschiedenster Richtung, von liberalen Katholiken bis zu konservativen Protestanten, gehen über diese minimale Beschreibung des Jenseits kaum hinaus.61)

Anhand dieser Ausführungen ist ersichtlich, dass das Entschlafenenwesen der NAK biblisch gesehen nicht so selbstverständlich ist, wie verbreitet geglaubt wird. In der historischen Entwicklung waren die Toten zunächst pauschal von der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen; erst nach und nach kam die Überzeugung zum Durchbruch, dass Gott auch auf die Toten und ihren Bereich Zugriff haben muss. Dass sich am Zustand der Toten nachträglich (und vor einer Auferstehung) etwas ändern könne, ist eine nachbiblische Weiterentwicklung.

Weiter: Die Sakramente

Übersicht

1)
Friedrich Linde: Das Leben nach dem Tode. Eine Belehrung dargestellt nach der Lehre der Bibel und Erfahrung. 1931. S. 118
2) , 3)
Das Leben nach dem Tode. S. 71
4) , 5)
Das Leben nach dem Tode. S. 32
6)
Das Leben nach dem Tode. S. 58
7)
Das Leben nach dem Tode. S. 120f
8)
Das Leben nach dem Tode. S. 115f
9)
Unsere Familie, 20. Januar 1996, S. 17ff
10)
Da sich die Erlösten nach neuapostolischer Lehre erst nach Abschluss des Friedensreiches und des Endgerichts dauerhaft im dann neu erschaffenen Himmel (Offb 21) aufhalten werden, ist der derzeitige Himmel für die Gläubigen lediglich ein kurzes, wenn auch bedeutsames, Zwischenspiel: nämlich für die Hochzeit im Himmel, die gemäß Offb 12,14 dreieinhalb Jahre dauern soll. Vergl. Bezirksapostel Eugen Startz, 19. Rundschreiben „Aufschluß“ über die Offenbarung Johannis vom 25. Mai 1976 http://waechterstimme.orgfree.com/joh_off2.html
11)
Bei den Mormonen gibt es die stellvertretende Taufe für Verstorbene übrigens bereits seit 1840, siehe http://www.lds.org/
12)
Bezirksapostel Günter Knobloch, Bezirksevangelist Walter Drave: Das Entschlafenenwesen. Eine Darstellung des Glaubens und Handelns im Werke des Herrn. 1986. S. 52. http://waechterstimme.orgfree.com/entswes1.html
13)
Das Entschlafenenwesen, S. 57.
14)
1 Kor 15,29 (Luther 1912); in anderen Übersetzungen heißt es „für die Toten“ statt „über den Toten“.
15)
Diese namentliche Nennung wird bei den Mormonen bis heute vorausgesetzt und praktiziert. Über die vollzogenen Handlungen wird genau Protokoll geführt.
16)
De Herinnering, April/Mai 1874, Hrsg. Friedrich Wilhelm Schwartz, zitiert in: Das Entschlafenenwesen, S. 70ff.
17) , 40)
Ebenda
18)
Das Entschlafenenwesen, S. 76.
19)
Unsere Familie Nr. 19/2004 (5. Oktober 2004), Artikel „Apostel Friedrich Wilhelm Schwartz in Amsterdam“, S. 13
20)
Das Entschlafenenwesen, S. 79. Vergl. S. 160.
21)
Das Entschlafenenwesen, S. 81.
22)
„Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und was irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein.“ Mt 18,18
23)
Das Entschlafenenwesen, S. 201.
24)
Lic. Dr. W. Geppert, Die Neu-Apostolischen unter dem Gericht der Apostolischen Augenzeugen Christi, ca. 1952, S. 39, in: Anonym, Aus der Geschichte der Neuapostolischen Kirche. Gesammeltes historisches Quellenmaterial http://www.sekten.ch/ex-site/tuere-folder/stories-folder/Steurich12.rtf, S. 84
25)
Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, 1997, S. 486, Anmerkung 124 http://waechterstimme.orgfree.com/segrent.html
26)
Richtlinien für die Amtsträger der Neuapostolischen Kirche, 1963. Zitiert in Das Entschlafenenwesen, S. 199.
27)
Leitgedanken vom November 1998, „Gottesdienst für Entschlafene. Zusammenhänge und Hintergründe“ http://waechterstimme.orgfree.com/lggdfent.html
28)
F&A 1968, Nr. 216
29)
F&A 1968, Nr. 191: „Zum Erlöserdienst fehlte ihnen [den Bischöfen] jedoch das Apostelamt.“
30)
„Ich [Jesus] habe die Schlüssel des Todes und des Totenreiches.“ Offb 1,18b
31)
Das Entschlafenenwesen, S. 101.
32)
Lehrbuch über Fragen und Antworten zum Gebrauch für den Religionsunterricht der Kinder und Konfirmanden in der Neuapostolischen Gemeinde, herausgegeben von Herm. Niehaus, 1916, Frage Nr. 459
33) , 34)
Das Entschlafenenwesen, S. 181.
35)
Das Entschlafenenwesen, S. 182.
36)
Das Entschlafenenwesen, S. 185.
37)
Zitate aus Leitgedanken vom Januar 1991, „Die Schlüsselgewalt“. http://waechterstimme.orgfree.com/stschgew.html
38)
Aus einem Gebet von Stammapostel Fehr vom 30. Juni 1990 in Marseille, zitiert nach Leitgedanken vom Januar 1991, „Die Schlüsselgewalt“.
39)
Leitgedanken zum Gottesdienst, März 2001, „Schlüsselvollmacht“ http://waechterstimme.orgfree.com/lg032001.html
41)
Rudolf Passian, Licht und Schatten der Esoterik : Eine Orientierungshilfe bei der Beurteilung esoterischer Lehren, Knaur, 1991, Kapitel Spiritismus und Spiritualismus http://www.wegbegleiter.ch/werke/passian/licht004.htm
42)
Unsere Familie, Ende 2002/Anfang 2003, Artikel Esoterik Teil 1: „Nach Hebräer 9,27 ist den Menschen bestimmt, einmal zu sterben und nicht viele Male. Außerdem schließen sich Reinkarnation und Auferstehung gegenseitig aus.“
43)
Fragen und Antworten vom Jugendtag 1998 in Stuttgart. Stammapostel Fehr auf die Frage, ob auch Tiere eine Seele haben: „Nein. … Es ist also nicht so wie eine Schwester berichtete, dass sie ihren verstorbenen schwarzen Pudel im Traum ganz in Weiß sah.“ http://waechterstimme.orgfree.com/funda.html
44)
W. Geppert, Die Neu-Apostolischen unter dem Gericht der Apostolischen Augenzeugen Christi, ca. 1952, in: Anonym, Aus der Geschichte der Neuapostolischen Kirche. Gesammeltes historisches Quellenmaterial, S. 80 http://www.sekten.ch/ex-site/tuere-folder/stories-folder/Steurich12.rtf
45)
Krawielitzki, M., Die „Neuapostolischen“, ca. 1930, in: Anonym, Aus der Geschichte der Neuapostolischen Kirche. Gesammeltes historisches Quellenmaterial, S. 57 http://www.sekten.ch/ex-site/tuere-folder/stories-folder/Steurich12.rtf
46)
Diese Auffassung vertritt Willi Marxsen und in ähnlicher Weise auch Rudolf Bultmann (1884-1976), der prägend auf die Theologie des 20. Jahrhunderts wirkte; vergl. Kessler, Sucht den Lebenden nicht bei den Toten, S. 173-181
47)
Das ist die Überzeugung der Anhänger des Mortalismus (siehe Lang/McDannell, Der Himmel, S. 311). Auch für die Zeugen Jehovas gibt es kein Leben nach dem Tod. Für sie befinden sich die Toten in Gottes Gedächtnis und sind bis zur Auferstehung völlig ohne Bewusstsein.
48)
Diese Auffassung vertritt unter anderem Hans Kessler. Gisbert Greshake schreibt in Stärker als der Tod, S. 70: „Die Auffassung, daß im Tod Auferstehung geschieht, wird nicht nur von den meisten Theologen heute vertreten, sie ist auch schon eingegangen in »offiziöse« kirchliche Texte.“
49)
Diese Sichtweise ist historisch gesehen noch recht jung und geht vor allem auf den schwedischen Visionär Emanuel Swedenborg (1688-1772) zurück, der dem bis dahin bekannten asketischen, theozentrischen Himmel einen eher anthropozentrisch geprägten Himmel entgegen stellte. Vergl. Lang/McDannell, Der Himmel, S. 246ff.
50)
Der Reinkarnationsgedanke lässt sich durchaus mit dem Christentum vereinbaren. Die meisten christlichen Kirchen lehnen die Reinkarnation als widerchristlich ab. Dennoch gibt es Christen, die die Möglichkeit einer Reinkarnation zumindest annehmen, auch im Widerspruch zur Lehre ihrer Kirche. In der Sekte „Universelles Leben“ spielt die Reinkarnation sogar eine zentrale Rolle. Ich erwähne diese exotische Variante der Vollständigkeit halber und werde sie hier nicht weiter verfolgen.
51)
Ez 37,1-14 (Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr.), vergl. Kessler, S. 50.
52)
Dtn 6,4: „Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr allein!“
53)
Frankemölle, S. 19
54)
Bernhard Lang, Colleen McDannell, Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, S. 41
55)
Gisbert Greshake, Stärker als der Tod, S. 58f
56)
Lang/McDannell, Der Himmel, S. 48
57)
Lang/McDannell, Der Himmel, S. 49f.
58)
Lang/McDannell, Der Himmel, S. 471ff.
59)
Lang/McDannell, Der Himmel, S. 246.
60)
Lang/McDannell, Der Himmel, S. 249.
61)
Lang/McDannell, Der Himmel, S. 473.
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