4.1 Grundlegende Begriffe: Glaube, Wissen, Wahrheit, Zweifel
Nun war bisher bereits recht oft vom Glauben die Rede, ohne diesen Begriff seinem Inhalt nach zu untersuchen. Doch in einer kritischen Untersuchung „des Glaubens" muss zunächst klar sein, was darunter zu verstehen ist.
Glaube ist ein vielschichtiger Begriff. Das Deutsche Wörterbuch widmet diesem Stichwort 41 Spalten. Es werden vier Hauptbedeutungen bzw. -verwendungen unterschieden, die sich jedoch teilweise überschneiden und durchdringen1):
- Glaube als religiöser Begriff.
- In Bezug auf christliche Religion wird Glaube zunächst als seelisch-geistige Handlung und inneres Verhalten des Menschen Gott und seiner Offenbarung gegenüber verstanden.
- Durch den Glaubensakt wird eine religiöse Überzeugung bewirkt, einschließlich des Fürwahrhaltens biblischer und kirchlicher Lehren und einer Lebensführung nach den christlichen Geboten.
- Glaube als christliche Tugend zeigt sich in Gottvertrauen, Treue und Gehorsam Gott gegenüber.
- Glaube als Eigenschaft Gottes im Sinne von Treue, Zuverlässigkeit (nur biblisch verwendet, etwa in Röm 3,3b gemäß Luther).
- Glaube als Gesamtheit der Lehren, die Gegenstand des christlichen Glaubens sind.
- Glaube bezeichnet die christliche Religion in all ihren Erscheinungsformen als Ganzes gesehen, steht also synonym für Christentum.
- Glaube als Bezeichnung einer konfessionellen Gemeinschaft.
- Glaube als Vertrauen oder Zutrauen einer Person oder Sache gegenüber, aus der inneren Gewissheit heraus, dass vorausgesetzte Werte, Fähigkeiten, Kräfte und Eigenschaften sich bewähren.
- Glaube als subjektiv begründete Überzeugung von der Wahrheit einer Aussage, eines Urteils oder einer Vorstellung.
- Glaube als starkes gefühlsmäßiges Verhältnis zu innerweltlichen Werten, Idealen, Personen usw.
In vielen Diskussionen über den christlichen (I.6) oder einen konfessionellen Glauben (I.7) geht es um das Verhältnis von Glauben und Wissen, wobei der Glaube hauptsächlich als ein Fürwahrhalten von Lehraussagen (Glaube III bzw. I.2) verstanden wird und die anderen Aspekte nahezu keine Rolle spielen. Das ist ein möglicher, wenn auch unvollständiger Zugang zum „Phänomen" Glauben. Die Auseinandersetzung mit dem Glauben vollzieht sich dabei auf einer intellektuellen Ebene. Dabei ist zu bedenken, dass der christliche (bzw. speziell der neuapostolische) Glaube ja gerade in intellektuell fassbaren Sätzen (Lehraussagen) definiert wird und eine Kritik daran auf intellektueller (verstandesmäßiger) Basis möglich und angemessen ist. Mit anderen Worten: Der Glaube ist, soweit er als System von Lehraussagen verstanden wird, dem Verstand zugänglich und kritisierbar.
Doch damit ist der Glaube, selbst wenn ein Glaubenssystem durch kritische Überlegungen zerstört würde, noch nicht am Ende. Er hat Aspekte, die sich einem intellektuellen Zugang weitgehend entziehen, z. B. Treue und Vertrauen.
Von Augustinus stammt die Aussage: „Wo das Wissen aufhört, fängt der Glaube an."2) Diesen Satz kann man auf unterschiedliche Weise verstehen:
- Wissen ist dem Glauben (d. h. Fürwahrhalten) zwar stets vorzuziehen, doch sowohl das persönliche als auch das globale Wissen ist begrenzt und man ist darauf angewiesen, gewisse und noch unbewiesene Dinge zu glauben.
- Wissen ist auf Dinge beschränkt, die dem Verstand zugänglich sind, d. h. die man prinzipiell benennen, verstehen und über die man reden kann. Jenseits dieser Grenzen liegt der Bereich, in dem der Glaube (z. B. als Vertrauen zu Gott) wirkt und seine Kraft entfaltet.
Ein weiterer Begriff, über den in diesem Zusammenhang nachgedacht werden soll, ist Wahrheit. Allgemein versteht man unter Wahrheit „die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand"3). Vielleicht noch am geläufigsten ist der Wahrheitsbegriff der Logik: eine Aussage ist „wahr", wenn sie aus „unmittelbar einsichtigen" Grundsätzen (Axiomen) und anderen wahren Aussagen abgeleitet werden kann, andernfalls ist sie „falsch". Darüber hinaus (im täglichen Leben) können gewisse Aussagen auch „unbestimmt" sein, d. h. weder wahr noch falsch.
Biblisch gesehen ist Wahrheit allerdings etwas anderes als die bloße Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand: „die W[ahrheit] wird erfahren, offenbart, erlebt, getan … Bestimmend für das biblische Verständnis der W. ist die W. als Wirklichkeit Gottes, Jesu Christi, des Heiligen Geistes und des Evangeliums."4) Das zeigt sich z. B. in Joh 14,6: „Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich."
Wenn die Kirchenleitung versucht, den Glauben auf Grundwahrheiten oder sogenannte Eckwerte zu gründen, die nicht relativiert werden dürfen und nicht diskutierbar sind5), so ist das ein einseitiger Zugang zum Glauben und eine Beschränkung auf die intellektuelle Ebene. Gerade dadurch wird der Glaube kritisierbar.
Wie verhält sich nun der Glaube zum Zweifel? Oft (auch im Neuen Testament) werden beide Begriffe in einem Gegensatz gesehen, wobei der Glaube positiv und der Zweifel negativ beurteilt wird. Um dieses Verhältnis richtig verstehen zu können, ist zu untersuchen, mit welchem Sinn der Begriff Zweifel im Neuen Testament (im Alten Testament kommt er nicht vor) verwendet wird. „Im NT ist das häufigste griech. Wort für zweifeln diakrinô, das sonst ‚unterscheiden, beurteilen' bedeutet."6) In Mt 14,31, Mt 21,21, Mk 11,23, Apg 11,12, Röm 14,23 und Jak 1,6 kann Glaube nur als Vertrauen, nicht aber als Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, verstanden werden; dem entsprechend wird mangelndes Vertrauen als Zweifel bezeichnet.
Diesen Abschnitt möchte ich mit einem Zitat beschließen, das mit meiner persönlichen Überzeugung völlig übereinstimmt:
Zweifel kommen nur dem, der nach Wahrheit fragt … Ich denke und frage aus dem biblisch vermittelten Urvertrauen, dass ich Gott nie verlieren kann, wenn ich nach Wahrheit suche; auch dann nicht, wenn mir dabei einige Gefäße zerbrechen, in denen vergangene Generationen einmal Wahrheit zu fassen und zu bewahren suchten.
Ich vertraue darauf, dass ich bei einem wahrheitssuchenden Forschen nicht ins Leere falle, sondern auf einen Grund stoße, der meinen Glauben in gewandelter Gestalt neu zu tragen vermag. -
Alles Lebendige muss immer wieder seine alte Gestalt hinter sich lassen und sich wandeln, um in neuer Gestalt weiterleben zu können. Sonst bleibt es nicht lebendig. Dem Glauben geht es nicht anders …7)